In der ewigen Debatte um das Handyverbot an Schulen hat sich eine Haltung festgesetzt wie Kaugummi unter der Schulbank: „Kinder und Jugendliche können mit diesen Geräten nicht verantwortungsvoll umgehen.“ Das ist in etwa so, als würde man sagen: „Kinder können keine Grammatik, also verbieten wir Sprache.“ Doch wäre es nicht sinnvoller, stattdessen Sprachunterricht anzubieten?
„In der Praxis agieren schon kleinere Kinder selbstbestimmt durch eigenes Medienhandeln, zum Beispiel durch selbst gewählte Mediennutzung oder das Teilen von Fotos oder Videos auf sozialen Netzwerken, die oft abseits elterlicher oder schulischer Begleitung erfolgen. Damit ist das grundlegende Dilemma des Selbstbestimmungskonzepts mit Blick auf Kinder angesprochen: Einerseits soll die Selbstbestimmung des Kindes als zukünftige erwachsene Person erst möglich werden, indem Kinder vor bestimmten Erfahrungen geschützt werden und andererseits braucht Selbstbestimmung als Fähigkeit die Selbstbestimmung als Möglichkeit, indem Kinder diese erproben und sich selbst im Zuge ihrer „evolving capacities“ als Subjekte ihrer eigenen Entwicklung erleben können.“[1]
Genauso wenig wie wir erwarten können, dass Heranwachsende über Nacht zu Aristoteles der digitalen Welt werden, können wir ihre Fähigkeit, Technologie zu nutzen, durch Verbote entwickeln. Lassen Sie uns also einmal progressiv, mutig und auch ein wenig unorthodox um die Ecke denken: Statt Handys zu verteufeln, sollten wir Räume schaffen, in denen Kinder und Jugendliche den Umgang damit üben können.
Die Schule als Experimentierfeld statt als Hochsicherheitszone
Kinder und Jugendliche benötigen dringend einen geschützten Raum, in dem sie Fehler machen dürfen. Dies gilt auch für den Kontext des Digitalen: Nur so können sie die komplexen Regeln der digitalen Welt wirklich erlernen. Macht es etwas mit mir, wenn ich mein Handy ständig neben mir liegen habe? Wie ist das, wenn ich versuche zu arbeiten und eine Benachrichtigung nach der anderen geht ein? Wie reagiert mein Umfeld, wenn mein digitaler Begleiter ständig dabei ist? Dies sind keine rein hypothetischen, sondern ganz reale Fragestellungen, mit denen sich junge Menschen täglich konfrontiert sehen. Die Schule sollte auch ein Raum sein, in dem sie solche Fragen ausprobieren und ihre Konsequenzen erkennen können, ohne dass sofort schwerwiegende Folgen drohen.
Diese Sichtweise unterstreicht Traxler, der von einer “transformation of education from a (contrived) performance in a formal setting, on a stage, to a shared experience of a (contingent) reality”[2] spricht. Bildung, so Traxler, sollte keine isolierte Übung bleiben, sondern muss eng mit der Realität der Lernenden verknüpft sein. Ein rigoroses Handyverbot jedoch nimmt den Kindern und Jugendlichen diese Möglichkeit und entkoppelt sie von einem essenziellen Lernfeld: ihrem individuellen digitalen Alltag.
Die Vielfalt und Vieldeutigkeit digitaler Technik stellt junge Menschen vor Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Tully argumentiert: „Vieldeutigkeit tritt an die Stelle von Eindeutigkeit (…), was auch bedeutet, dass die individuelle Leistung darin besteht, passende Nutzungsformen individuell zu entfalten.“[3] Anders gesagt: Jede und jeder Jugendliche muss lernen, die digitale Welt für sich zu interpretieren und darin ihren und seinen eigenen, verantwortungsvollen Weg zu finden und eigene Nutzungsweisen und -formen auszuhandeln. Eine solche Fähigkeit lässt sich nicht durch Verbote fördern, sondern vor allem durch praktisches Ausprobieren und Erfahren. Schulen sollten deshalb nicht als Hochsicherheitszonen agieren, die jedes Risiko eliminieren, sondern vielmehr als „Trainingsorte“ fungieren, in denen Kinder und Jugendliche den digitalen Umgang unter Anleitung üben können.
Eipold et al. meinen genau das, wenn sie postulieren, dass Schulen bewusst Räume schaffen müssen, in denen reflektierende und einordnende Auseinandersetzungen mit der digitalen Welt stattfinden.[4] Handys, so ihre Argumentation, sollten nicht verteufelt, sondern in den Unterricht eingebettet werden, damit Kinder und Jugendliche die – manchmal durchaus negativen – Konsequenzen ihrer digitalen Handlungen in einem sicheren Rahmen erleben können. Ohne diesen Ansatz droht eine Parallelpädagogik, in der junge Menschen ihre digitalen Erfahrungen nur in der emotionalen und mentalen Distanz, im Verborgenen und – dann eben auch – ohne jede Unterstützung und Anleitung machen.
Ein durchdachter Umgang mit Handys in der Schule mindert nicht nur Risiken im Alltag, sondern trägt auch entscheidend zur Entwicklung von Medienkompetenz bei. Stapf beschreibt dies treffend, wenn er fordert, Kinder und Jugendliche nicht als „Mängelwesen“ zu betrachten, die ständiger Korrektur bedürfen, sondern als „handelnde Subjekte“, die selbstständig lernen und wachsen können.[5] Fehler, die im sicheren Raum Schule gemacht werden, sind Chance, nicht Problem! Ein Hoch auf das Scheitern!
Indem wir jungen Menschen den Raum geben, zu scheitern und aus Fehlern zu lernen, bereiten wir sie nicht nur auf die digitale Zukunft vor, sondern ermöglichen es ihnen, diese aktiv und verantwortungsvoll mitzugestalten. Auch Schule als solches wächst daran: vom Kontrollapparat zu einem Ort der Selbstbefähigung und des eigenständigen Handelns – so kann sie weit über den Schulhof hinaus wirken.
Das Handy als kulturelles Objekt – Lernen jenseits der Schulbank
Handys sind längst nicht mehr nur technische Geräte, die ausschließlich zur Kommunikation oder Unterhaltung dienen, sondern haben sich zu zentralen kulturellen Objekten entwickelt. Sie begleiten uns durch den Alltag und prägen, wie wir Wissen erwerben, uns austauschen und die Welt wahrnehmen.
“People no longer need to engage with information and discussion at the expense of real life but can do so as part of real life as they move about the world, using their own devices to connect them to the people and ideas of their own choosing, perhaps using their own devices to generate and produce content and conversation as well as store and consume them. This is changing how people relate to technology. It is also changing how they relate to each other, to the content and conversation facilitated by the technology and consequently to learning and education.”[6]
Es ist daher wenig überraschend, dass Mikos fordert, „Bildung [müsse] (…) weit gefasst werden und Formen informeller Bildung als erfahrungs- und erlebnisbezogene Formen kultureller Praxis einschließen, die über formale Bildungsaspekte hinausgehen.“[7] Wer Handys aus dem Schulalltag verbannt, ignoriert nicht nur ihre gesellschaftliche Bedeutung, sondern riskiert, eine wertvolle Chance für Bildung zu verspielen.
Was das konkret bedeutet, fragen Sie sich? Stellen wir uns einen jungen Menschen in der Schule vor, der während einer Pause durch seinen Video-Feed scrollt und dabei auf einen Clip zu Fake News stößt. Statt das Handyverhalten als Ablenkung zu disqualifizieren, könnte die Schule diesen Moment als Moment der Bildung und Selbstbefähigung anerkennen. Diese Art von selbstständigem und lebenslangem Lernen ist Teil des Bildungsprozesses – nicht trotz, sondern gerade wegen der Nutzung digitaler Medien. Der Zugriff auf Wissen geschieht nicht mehr länger nur im Klassenraum, sondern überall dort, wo digitale Geräte verfügbar sind. Die Schule muss diese Realität annehmen und aufgreifen, statt sie zu ignorieren oder abzustrafen, wenn sie ernstzunehmende Institution in Sachen Bildung bleiben will.
„Alltags- und Konsumobjekte, Medien, Lieblingsgegenstände etc. (…) in den Raum Schule zu integrieren, ist eine Aufgabe, die Reflexivität von den beteiligten SchülerInnen und LehrerInnen erfordert, um das „prekäre“ Spannungsfeld zwischen informellen Kontexten wie z.B. dem Hobby und formellen wie Schule, Klassenzimmer und Lehrplan (…) aufzulösen. In diesem Spannungsfeld kann Regulierung nicht nur durch Verbote, Einschränkungen oder Ausschluss (siehe zum Beispiel das Handyverbot an vielen deutschen Schulen), sondern auch durch die integrierende, reflektierende und einordnende Auseinandersetzung geschehen. Für die SchülerInnen reduziert sich dadurch das Risiko potentiellen Scheiterns und prekäre Spannungsfelder werden zu Möglichkeitsräumen.“[8]
Das bedeutet, dass Schulen keine Gegenspieler digitaler Medien sein sollten, sondern deren aktive Gestalter. Indem sie digitale Plattformen und populärkulturelle Praktiken in den Unterricht einbinden, können sie Kinder und Jugendliche nicht nur dazu befähigen, Inhalte kritisch zu hinterfragen, sondern ihnen auch zeigen, wie sie diese gezielt für ihren eigenen Bildungsprozess nutzen können.
„Dem öffentlichen Diskurs sind die Vergnügungen der Menschen meist suspekt. Sie entsprechen nicht dem Kunstgenuss der Hochkultur. Das Vergnügen wird ausgegrenzt und die Ablehnung des Vergnügens dient als Mittel der Distinktion. (…) In der Tradition der Aufklärung kann für die herrschenden bürgerlichen Eliten nur Information bzw. Bildung das Maß aller Dinge sein, Unterhaltung unterläuft diesen Anspruch, weil die populären und ästhetischen Vergnügungen der Massen sich dem rationalen Diskurs widersetzen und damit, zumindest teilweise auch subversiven Charakter haben können. (…) Die Unterscheidung stellt eine gesellschaftliche Diskurspraktik dar, die sich nicht nur in den im Alltag zirkulierenden Geschmacksurteilen zeigt, sondern auch in der Praxis der Medienbildung, die noch vorwiegend an den Idealen einer bürgerlichen Hochkultur orientiert ist und die informellen Lerneffekte populärkultureller Praktiken von Kindern und Jugendlichen gern negiert.“[9]
Handys dienen der Unterhaltung. Sie werden zum Austausch mit anderen genutzt. Sie sind Quelle für Information und Werkzeug zur Recherche. Sie sind Fenster zu anderen Kulturen und Perspektiven. Jugendliche nutzen soziale Medien, um globale Ereignisse in Echtzeit zu verfolgen, neue Trends zu entdecken oder sich mit Gleichaltrigen aus aller Welt auszutauschen. Für Kinder und Jugendliche existiert eine Distinktion zwischen analoger und digitaler Welt nicht mehr.
“Formal education systems (…) are clearly less and less well aligned to the needs and behaviour of much of our societies.”[10]
In der skizzierten Gleichzeitigkeit existiert ein evolvierender sozialer Raum, dem sich auch Schule offen zuwenden muss. Die dort stattfindenden Prozesse können (auch als Freizeitbeschäftigungen) Gelegenheiten für informelles interkulturelles Lernen und individuelle Weiterentwicklung sein. Dieser hybride Raum ist dabei Quelle von Unterhaltung und von Inspiration, Lernprozessen und Horizonterweiterung. Den offenen und produktiven Umgang damit muss Schule dringend lernen.
Ein rigoroses Handyverbot deklassiert Kinder und Jugendliche zu passiven Rezipienten und unterstellt ihnen ein Maß an Unreife, das weder ihrem tatsächlichen Potenzial noch den Anforderungen der digitalen Gegenwart gerecht wird. Lehrkräfte müssen sie darin unterstützen, die kulturelle Bedeutung digitaler Medien mit all ihren Vor- und Nachteilen zu erkennen und verantwortungsvoll, eigenständig und individuell selektiv damit umzugehen.
Kurz gesagt: Ein Schulalltag, in dem digitale Medien sinnvoll eingebettet sind, kann Kinder und Jugendliche zu aktiven und kritischen Mediennutzenden erziehen. Die digitale Welt ist kein Feindbild, sondern ein kultureller Schatz, dessen Potenzial wir nutzen und über dessen Risiken wir aufklären sollten – sei es durch das kritische Analysieren von Inhalten, das kreative Gestalten eigener Medienprojekte oder das bewusste Erlernen digitaler Etikette. Letztlich ist es nicht die Technik selbst, die einen positiven oder negativen Einfluss auf Kinder und Jugendliche hat, sondern der Umgang mit ihr – und es gibt nicht viele Orte („Möglichkeitsräume“), an denen sie diesen lernen können.
Handys als soziale Brücken statt als Spaltpilze
Wer glaubt, Handys würden Kinder und Jugendliche in die soziale Einsamkeit treiben, hat wahrscheinlich noch nie eine Gruppe Teenager dabei beobachtet, wie sie gemeinsam über die neuesten Memes lachen, Trends nachstellen oder sich in hitzige Diskussionen über die besten Foto-Filter vertiefen. Das Handy ist kein Instrument der Entfremdung, sondern ein Werkzeug der Verbindung – besonders unter Gleichaltrigen. Mikos bringt es auf den Punkt: „Mit den Peers werden Normen und Werte, Einstellungen und Rollenbilder ausgehandelt. Die Medien geben Anregungen, deren Bedeutung von den Kindern und Jugendlichen dann erst in der Kommunikation mit anderen entsteht.“[11] Handys sind in diesem Kontext nicht nur Kommunikationsmittel, sondern kulturelle Brücken, über die sich Kinder und Jugendliche gegenseitig orientieren und ihre Identität entwickeln.
Ein Handyverbot könnte deshalb sogar das Gegenteil dessen bewirken, was es eigentlich erreichen soll: Es trennt sie von den kulturellen Codes ihrer Generation und erschwert ihnen die aktive Teilnahme an den digitalen Gemeinschaften, die für ihr soziales Leben zentral sind. Der digitale Austausch unter Gleichaltrigen hat dabei eine essenzielle soziale Funktion: Kinder und Jugendliche lernen auch in Chats, Gruppendiskussionen und digitale Kollaborationen, wie sie Beziehungen aufrechterhalten, Konflikte lösen und Empathie entwickeln können.
Während reaktionäre Stimmen vielleicht skeptisch anmerken, dass Heranwachsende ständig auf ihre Bildschirme starren, müssen Pädagogen erkennen, dass in diesen Interaktionen wichtige soziale Kompetenzen vermittelt werden und zentrale Prozesse der Identitätskonstruktion stattfinden. Ein Handyverbot schränkt diese Lernprozesse unnötig ein und verkennt die Realität und den Wert der digitalen Vernetzung als soziale Praxis.
Anstatt beziehungsstiftend zu wirken, Heranwachsenden Vertrauen entgegenzubringen und sie in (der Entwicklung) ihrer Autonomie zu begleiten und unterstützen, setzt Schule mit Handyverboten und deren Durchsetzung stete Zeichen des Misstrauens und trägt so entscheidend zu ihrer Entfremdung von Kindern und Jugendlichen bei. Die regelmäßig erscheinenden KIM- und JIM-Studien zeigen, dass Jugendliche digitale Medien primär auch dazu nutzen, um bestehende Freundschaften zu pflegen und auszubauen. Messenger-Dienste, und soziale Medien sind keine Alternativen zum „echten“ sozialen Kontakt, sondern die digitale Ergänzung und Erweiterung bestehender Kulturpraktiken. Die Gefahr einer allgemeinen Isolation von Kindern und Jugendlichen existiert de facto nicht, somit muss ihr nicht entgegengewirkt werden. Zudem: Wer sich sozial isolieren will schafft dies auch ganz ohne digitale Medien.
Schule müssen als empathische Ermöglichungsinstanzen auftreten – mit Räumen und Orten, an denen Jugendliche lernen, ihre digitale und soziale Identität mündig, umsichtig und selbstbewusst zu entwickeln und zu gestalten.
Ein geregeltes Chaos – Handyzonen als Kompromiss
Nun mag man skeptisch einwenden, dass ein völlig unregulierter Handygebrauch den Schulalltag ins digitale Chaos stürzen könnte. Wer möchte schon eine Klasse, in der Kinder und Jugendliche lieber Gaming-Tänze üben oder Katzenvideos teilen, während sie eigentlich die Feinheiten der französischen Revolution diskutieren sollten? Die Angst, dass Handys den Unterricht sprengen, ist berechtigt – zumindest, wenn deren Nutzung gar nicht reguliert ist. Aber die Lösung liegt nicht im kategorischen Verbot, sondern in einer klugen Strukturierung. Denn wo reines Chaos droht, kann mit durchdachten Absprachen ein geregeltes Chaos entstehen – und daraus wiederum ein Raum für kreatives Lernen und Experimentieren.
Hier kommt die Idee der „Handyzonen“ ins Spiel: Dabei handelt es sich um klar definierte Bereiche und Zeitfenster innerhalb der Schule, in denen der Gebrauch der Handys erlaubt ist. Pausenhöfe könnten zu Handy-Freiräumen werden, in denen Schüler die Geräte nutzen dürfen. Auch in der Unterrichtszeit könnte es gezielte Phasen geben, in denen Handys aktiv in den Lernprozess integriert werden – sei es, um Recherchen durchzuführen, kreative Projekte zu gestalten oder mithilfe von Apps den Stoff zu vertiefen. Diese geregelte Öffnung schafft nicht nur eine Struktur, sondern gibt – eine angemessene Beaufsichtigung durch Lehrkräfte vorausgesetzt – den Kindern und Jugendlichen auch die Möglichkeit, zu lernen, wann und wie der Handygebrauch sinnvoll ist.
„Indem Schule die Handlungskompetenzen aus dem Alltag zulässt und Kindern die Freiheit bietet, sich zu entfalten, Prozesse aus dem Alltag zu reflektieren und in der Schule alltagsbezogene Medien zu produzieren, kann es ihr gelingen, sich sinnvoll und fördernd in den Prozess der Medienbildung einzuklinken (…).“[12]
Anstatt die Heranwachsenden einem rigiden Verbot zu unterwerfen, werden potenzielle Herausforderungen und Konflikte in Gelegenheiten für Wachstum und Eigenverantwortung verwandelt. Denn genau darum geht es: Kinder und Jugendliche sollen lernen, ihre Nutzung von digitalen Medien selbst zu reflektieren und zu regulieren – und das geht am besten in einem geschützten Rahmen, der sowohl Raum für Fehler als auch für Erfolge bietet.
Handyzonen können zudem überaus flexibel sein: Schulen könnten je nach Bedarf und Alter der Kinder und Jugendlichen differenzierte „mitwachsende“ Regeln einführen. In der Grundschule könnte etwa ein generelles Verbot während der Unterrichtszeit sowie eine enge Begleitung in spezifisch ausgewählten Pausen gelten, während in weiterführenden Schulen experimentierfreudigere Modelle erprobt werden. Lehrkräfte könnten gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen Regeln entwickeln, die für beide Seiten praktikabel sind. Diese partizipative Gestaltung fördert Akzeptanz und stärkt das Verantwortungsbewusstsein.
Natürlich sind Handyzonen kein Allheilmittel, und es wird immer Kinder oder Jugendliche geben, die versuchen, Absprachen und Vereinbarungen zu umgehen. Doch das ist auch in bestehenden Modellen der Fall (der Trend geht zum Zweit- und Dritthandy!) und sollte uns nicht davon abhalten, sinnvolle, progressive und kreative Lösungen zu suchen. Eine Einrichtung solcher Zonen würde zeigen: „Diese Schule ist bereit, sich der digitalen Realität zu stellen, statt sie zu ignorieren.“ Sie signalisiert den Schülern: „Wir vertrauen euch, dass ihr mit dieser Verantwortung umgehen könnt – und wir sind da, um euch zu unterstützen, wenn es mal nicht klappt.“ Gemeinsam wird ein Raum geschaffen, in dem das digitale Chaos gezähmt und in produktive Bahnen gelenkt werden kann – ein Ort, an dem Lernen und Technologie sich gegenseitig bereichern.
Der Bildungsauftrag: Medienkompetenz statt Technikfeindlichkeit
Der Bildungsauftrag der Schule endet nicht an der Tür zur digitalen Welt – er trifft dort lediglich auf neue Herausforderungen. In unserer Gegenwart, in der digitale Medien den Alltag prägen, ist es unerlässlich, dass Schulen Kinder und Jugendliche nicht nur in Mathematik, Biologie oder Sprachen unterrichten, sondern auch in den Kompetenzen, die sie brauchen, um sich sicher und souverän in der digitalen Welt zu bewegen. Grafe und Herzig bringen es auf den Punkt: „[E]ine positive Grundeinstellung gegenüber digitalen Medien stellt eine wichtige – wenn auch nicht hinreichende – Voraussetzung einer erfolgreichen Arbeit mit digitalen Medien in der Schule dar.“[13] Mit anderen Worten: Die Haltung der Schule gegenüber digitalen Technologien prägt entscheidend, wie Heranwachsende sich von Schule wahr- und ernstgenommen fühlen. Ein Verbot signalisiert Ablehnung und Skepsis – eine Haltung, die weder zeitgemäß noch hilfreich ist.
„Dass Kindheit eine Entwicklungsphase ist, hier verstanden mit der UN-Kinderrechtskonvention von der Geburt bis zur Volljährigkeit, sollte, so eine These hier, kein Grund dafür sein, Kindern Rechte grundsätzlich oder in Teilen abzusprechen, noch können derart allgemeine Feststellungen auf Kinder in der Lebensphase Kindheit verallgemeinert werden.“ [14]
Kinder haben ein Recht auf Medienbildung! Schulen müssen aktiv Medienkompetenz vermitteln und das nicht nur in speziellen Fächern, sondern eben auch im Alltag. Dabei geht es nicht nur darum, technische Fähigkeiten zu lehren, sondern vor allem auch um die kritische Auseinandersetzung mit digitalen Inhalten und der eigenen Bildschirmzeit. Ist es okay, die ganze Serie an einem Tag zu schauen? Gelingt es mir, mich auf eine Aufgabe zu konzentrieren? Lenken mich digitale Medien ab? Sind digitale Medien vertrauenswürdig? Was ist ein glaubwürdiger Nachrichtenbeitrag? Wie erkennt man Fake News? Wie schützt man sich vor Online-Mobbing oder Datenmissbrauch? Solche Fragen müssen gleichermaßen im Unterricht und im restlichen Schulalltag thematisiert werden.
„Anders als ein Verbot nimmt die interaktive Zuwendung das Kind als handelndes Subjekt ernst und blendet dennoch den Schutz nicht aus, der vielmehr mit Blick auf Autonomieerfahrungen gedacht wird.“[15]
Ein kategorisches Handyverbot mag auf den ersten Blick als einfache Lösung (Wofür eigentlich?!) erscheinen, doch es ist letztlich Symptom der Hilflosigkeit gegenüber der Idealvorstellung einer „guten Kindheit“ und einer unausgewogenen Auslegung des Jugendmedienschutzes.
„Die Konstruktion einer guten Kindheit impliziert die Idee einer schlechten Kindheit. Die angenommene Vulnerabilität des Kindes befördert den „Auf- und Ausbau von Präventions- und Disziplinierungsmaßnahmen“ (…). Der Gefährdungsdiskurs ebnet den Weg letztlich zu einer Pädagogisierung und zu einem Kontrollregime, die im Gestus des Risikomanagements Schutz verspricht.“[16]
Der Wunsch nach Risikomanagement und Schutz muss aber unbedingt in angemessene Balance zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen gebracht werden. Sie sind nicht nur Lernende, die es zu begrenzen und disziplinieren gilt, sondern auch politische Wesen und zukünftige Bürger, die der Freiheit zum aufgeklärten und mündigen Aufwachsen und zur individuellen Identitätsgestaltung bedürfen.
„Kinder brauchen (…) in ihrer Autonomieentwicklung auch Möglichkeiten zur Erfahrung und zur Erprobung sowie den Raum dafür, in einem weitgehend sicheren Umfeld und – soweit vom Kind erwünscht – Verantwortung zu übernehmen, die als (…) „Ausdruck eines Sozialverhältnisses“ gilt. Dies entlastet Eltern nicht von ihren Elternpflichten und den Staat nicht von seinem Auftrag, Kinder angemessen zu schützen. Es verweist aber auf die Wichtigkeit der Befähigung, d. h. Bildungsmaßnahmen, die auf Selbstbildung ausgerichtet sind.“[17]
In einer Welt, in der Fake News die öffentliche Meinung manipulieren und Bots den Ausgang von Wahlen beeinflussen können, ist Medienkompetenz eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Die Fähigkeit, digitale Inhalte kritisch zu hinterfragen, ist essenziell, um politische Verfehlungen zu erkennen und souverän mit ihnen umzugehen. Ein reflektierter Umgang mit digitalen Medien ist der Schlüssel zur Mündigkeit – und damit zu einer Gesellschaft, die ihre Bürger als aktive Gestalter und nicht als bloße Mitläufer versteht.
Die Welt der digitalen Medien mag komplex sein und uns vor individuelle wie gesellschaftliche Herausforderungen stellen. Ungeachtet dessen haben Schulen aber die Chance – und die Pflicht – Kinder und Jugendliche auf diese Welt vorzubereiten. Der Bildungsauftrag von heute verlangt nicht weniger als die ständige und aktive Vermittlung und Förderung von Medienkompetenz. Mit reaktionärer Technikfeindlichkeit kann dies nicht gelingen.
Fazit: Fortschritt heißt nicht Verzicht, sondern Gestaltung
Wenn wir Kindern und Jugendlichen den alltäglichen Umgang mit digitalen Medien vorenthalten, berauben wir sie nicht nur eines wichtigen Werkzeugs, sondern auch der Möglichkeit, Fehler zu machen und aus ihnen zu lernen. Doch genau das ist essenzieller Bestandteil jedes Bildungsprozesses: Scheitern, reflektieren, verbessern. Schulen, die Handys verbieten, distanzieren sich von der Lebensrealität ihrer Schülerinnen und Schüler und senden gleichzeitig die Botschaft, dass junge Menschen nicht in der Lage seien, selbstverantwortlich zu handeln – und das ist eine gefährliche Fehleinschätzung.
Medienbildung muss als integraler Bestandteil von Schule und Gesellschaft verstanden werden. Die digitale Welt ist keine Parallelwelt, die nach Belieben ausgeblendet werden kann! Das bedeutet, dass Kindern und Jugendlichen gezielte Anleitung und sichere Räume zum Ausprobieren unterstützend zur Seite stehen müssen, sich zunehmend souverän in der digitalen Welt zu bewegen.
Dabei geht es gleichermaßen um die Einzelnen und um gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Die Fähigkeit, kritisch mit Medien umzugehen, ist längst eine der Hauptfragen heutiger demokratischer Teilhabe. Wer Informationen und Nachrichten nicht einordnen kann, wird Opfer von Fake News und Manipulationen. Wer sich nur in individuellen sozialen Medienblasen bewegt, verliert schnell den Blick für Vielfalt und andere Perspektiven und verlernt demokratische Grundkompetenzen.
Entwicklung und Wandel brauchen Mut – und zwar jenen, alte Strukturen zu überdenken, Prozesse zur reflektieren und daraus neue Wege abzuleiten. Sie brauchen Mut, Kindern und Jugendlichen zuzugestehen, Fehler zu machen, statt sie vor jeder Herausforderung bewahren zu wollen oder diese auf später aufzuschieben. Nötig ist auch der Mut, in einer sich extrem schnell wandelnden Welt nicht auf starre Verbote zu setzen, sondern auf Zusammenarbeit und gemeinsame Gestaltung.
Lassen wir Kinder und Jugendliche also experimentieren, scheitern und nachdenken – in einem Raum, der die besten Rahmenbedingungen dafür bietet. Vielleicht wird die nächste große wissenschaftliche Entdeckung nicht in einem traditionellen Klassenraum gemacht, sondern im technologieoffenen Makerspace einer Schule.
Verweise:
[1] Stapf, I. Kindliche Selbstbestimmung in digitalen Kontexten. Medienethische Überlegungen zur Privatsphäre von Heranwachsenden. in: Marc Fabian Buck, M. F., Drerup, J., Schweiger, G. (Hrsg.) Neue Technologien – neue Kindheiten? Ethische und bildungsphilosophische Perspektiven. Berlin: Springer Verlag, 2020. (S. 44)
[2] Traxler, J. Education and the Impact of Mobiles and Mobility. An Introduction to Mobiles in our Societies. in: Bachmair, B. (Hrsg.) Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH, 2010. (S. 108, f.)
[3] Tully, C. J. Alltagslernen in technisierten Welten: Kompetenzerwerb durch Computer, Internet und Handy. in: Wahler, P., Tully, C. J., Preiß, C. (Hrsg.) Jugendliche in neuen Lernwelten. Selbstorganisierte Bildung jenseits institutioneller Qualifizierung. 2., erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008. (S. 169, f.)
[4] Eipold, J., Rummler, K., & Rasche, J. Medienbildung im Spannungsfeld alltäglicher. Handlungsmuster und Unterrichtsstrukturen. in: Bachmair, B. (Hrsg.) Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH, 2010. (S. 229)
[5] Stapf, I. Kindliche Selbstbestimmung in digitalen Kontexten. Medienethische Überlegungen zur Privatsphäre von Heranwachsenden. in: Marc Fabian Buck, M. F., Drerup, J., Schweiger, G. (Hrsg.) Neue Technologien – neue Kindheiten? Ethische und bildungsphilosophische Perspektiven. Berlin: Springer Verlag, 2020. (S. 37, f.)
[6] Traxler, J. Education and the Impact of Mobiles and Mobility. An Introduction to Mobiles in our Societies. in: Bachmair, B. (Hrsg.) Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH, 2010. (S. 101)
[7] Mikos, L. Vergnügen, Identität und Lernen. Informelles Lernen mit populären Fernsehformaten. in: Bachmair, B. (Hrsg.) Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH, 2010. (S. 213)
[8] Eipold, J., Rummler, K., & Rasche, J. Medienbildung im Spannungsfeld alltäglicher. Handlungsmuster und Unterrichtsstrukturen. in: Bachmair, B. (Hrsg.) Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH, 2010. (S. 233)
[9] Mikos, L. Vergnügen, Identität und Lernen. Informelles Lernen mit populären Fernsehformaten. in: Bachmair, B. (Hrsg.) Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH, 2010. (S. 213)
[10] Traxler, J. Education and the Impact of Mobiles and Mobility. An Introduction to Mobiles in our Societies. in: Bachmair, B. (Hrsg.) Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH, 2010. (S. 104)
[11] Mikos, L. Vergnügen, Identität und Lernen. Informelles Lernen mit populären Fernsehformaten. in: Bachmair, B. (Hrsg.) Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH, 2010. (S. 218)
[12] Eipold, J., Rummler, K., & Rasche, J. Medienbildung im Spannungsfeld alltäglicher. Handlungsmuster und Unterrichtsstrukturen. in: Bachmair, B. (Hrsg.) Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH, 2010. (S. 229)
[13] Grafe, S. & Herzig, B. Digitale Medien in Schule und Alltagswelt. Zur Verbindung von formellen und informellen Lernprozessen. in: Bachmair, B. (Hrsg.) Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschprachige und britische Diskussion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; GWV Fachverlage GmbH, 2010. (S. 186)
[14] Stapf, I. Kindliche Selbstbestimmung in digitalen Kontexten. Medienethische Überlegungen zur Privatsphäre von Heranwachsenden. in: Marc Fabian Buck, M. F., Drerup, J., Schweiger, G. (Hrsg.) Neue Technologien – neue Kindheiten? Ethische und bildungsphilosophische Perspektiven. Berlin: Springer Verlag, 2020. (S. 37, f.)
[15] Stapf, I. Kindliche Selbstbestimmung in digitalen Kontexten. Medienethische Überlegungen zur Privatsphäre von Heranwachsenden. in: Marc Fabian Buck, M. F., Drerup, J., Schweiger, G. (Hrsg.) Neue Technologien – neue Kindheiten? Ethische und bildungsphilosophische Perspektiven. Berlin: Springer Verlag, 2020. (S. 43)
[16] Zulaica y Mugica, M. Ernsthaftes Verspieltsein und verspielte Ernsthaftigkeit. Der Begriff der Kindheit im Feld „Neuer Technologien“ in: Marc Fabian Buck, M. F., Drerup, J., Schweiger, G. (Hrsg.) Neue Technologien – neue Kindheiten? Ethische und bildungsphilosophische Perspektiven. Berlin: Springer Verlag, 2020. (S. 131)
[17] Stapf, I. Kindliche Selbstbestimmung in digitalen Kontexten. Medienethische Überlegungen zur Privatsphäre von Heranwachsenden. in: Marc Fabian Buck, M. F., Drerup, J., Schweiger, G. (Hrsg.) Neue Technologien – neue Kindheiten? Ethische und bildungsphilosophische Perspektiven. Berlin: Springer Verlag, 2020. (S. 46)
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